Vernissage: 11.12.2021 ab 17:00 Uhr, Ausstellungsdauer bis 12.02.2022, Öffnungszeiten 24/7, Badstraße 32, 70372 Stuttgart
Alicja Wysocka, geboren in Polen, studiert derzeit an der Städelschule in Frankfurt am Main. Alicja erforscht alternative ökonomische Modelle und Formen der Koexistenz zur Bildung von Gemeinschaft, wie handwerkliche Tätigkeiten und andere Arten gemeinschaftlicher Aktivitäten als auch Rituale, die als kollektive Erfahrung durch ihre schöpferischen Eingenschaften therapeutische Wirkung entfalten.
Insta: @alfa_omegi
Lamentations, Installation, 2021
Mit einem vorchristlichen Ritual wird in Osteuropa traditionell die Kälte des Winters verabschiedet und die ersten, zaghaften Zeichen des Frühlings werden begrüßt. Die slawische Göttin Morana - sie steht für die Wiedergeburt, für den Traum und das Leben nach dem Tod - ist zentrale Figur dieser rituellen Handlung. Sie wird durch eine Puppe verkörpert, die, mit Alltagsgegenständen geschmückt, ertränkt wird.
Im Video Lamentations sind drei Frauen zu beobachten, die gemeinsam ein Bad nehmen und dabei Handlungen der Hingabe, der rituellen Reinigung und der Pflege an sich vollziehen. Szenen der Freude treffen auf Motive wie das eines Kreuzes aus Schlamm, das über einer Wirbelsäule gezogen wird, oder eines Gesichts, das unter der Wasseroberfläche verschwindet. Handgemachte Keramiken dienen dabei als Kultobjekte und erinnern an Votivformen wie Fische, Kreuze und gewundene Kelche, die das heidnische Ritual begleiten.
Alicja Wysocka versteht dieses Ritual als Heilung von Moranas Trauma, mit dem sie auch ihr persönliches postchristliches Trauma zu heilen versucht - jenes der Taufe als neugeborenes Kind. Das Trauma und der Schmerz der Slawen, die sich dem Untergang slawischer religiöser Vorstellungen und der Zwangschristianisierung widersetzten, sind diesem Trauma-Reenactment mit eingeschrieben.
Olivia Berkowicz, freischaffende Kuratorin und Autorin
Lamentations
She had a smile made with a marker
my mum cut her out
and her hands did attach
and her belly filled with rugs
I was a bit afraid of her
she had white sheet face because she was Lady Winter
so she was bad
white cold sheet dress
I don't remember but
They went by the river
They set her on fire and threw her into the river
Her head roll off the stick
White sheet became brown
Paper hands dissolved in the water
Outspread
Did they scream for help?
Here Morana was
fertility and harvest goddess back in the days
of the cycle of rebirth and death
What did they do to her?
Oh Morana, poor Morana
Oh Morana, poor Morana
we will undrown you
we anoint you
Oh Morana, poor Morana
Oh Morana, poor Morana
we will undrown you
we anoint you
Text by Alicja Wysocka
Wunderkammer – Naturalia / Artificialia besteht aus vier Schaufenstern, wovon zwei durch ausgewählte, junge und innovative Künstler*Innen bespielt werden. Deren Arbeiten werden parallel dazu mit Nicht-Kunstobjekten dem Titel folgend in Dialog gesetzt. Hierbei liegt ein Schwerpunkt auf der kritischen Auseinandersetzung und kuratorischen Neuinterpretation der Genealogie von Ausstellungspraktiken und deren kolonialen Verbandelungen, die besonders die frühe Geschichte des Ausstellens prägen. Unter dem schwerwiegenden Titel Wunderkammer – Naturalia / Artificialia sollen Gleichberechtigung und Vielfalt gefördert werden, Sichtbarkeit in einer für die Kunst unerschlossenen und unkonventionellen Umgebung geschaffen und durch die Exponiertheit der Schaufenster ein breites, meist zufälliges, Publikum adressiert werden.
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Wunderkammer – Naturalia / Artificialia
Die Welt zeigt sich als ein Haufen hübscher Schrott, wenn einem die Ordnungsparameter fehlen. So in etwa liest sich das Fazit des überwältigten Autors Jean de Labrune, der aus der barocken Wunderkammer des Basler Sammlers Remigius Faesch im Jahr 1686 Bericht erstattet. Kaum zu überblicken sei die eigentümliche Sammlung, in der sich neben kuriosen Dingen von solidem Wert, fragliche Objekte wie ein sehr dünnes Stück Holz und kaum besondere Steine fänden. Nach subjektiven Geschmackskriterien habe hier ein Mann mit Vermögen eine unordentliche Sammlung zusammengetragen, über die sich gerade noch „staunen“ ließe. Kuratiert hatte hier niemand.
Nun ist 2021 nicht die beste Zeit, um eine Renaissance des Staunens auszurufen. Die Welt lässt sich heute nur schwer als Ort der Wunder betrachten: die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen einer jahrhundertelangen westlich-kapitalistischen Verwaltungsweise der Welt treten mit aller Deutlichkeit hervor und selten schien die Welt so entzaubert zu sein wie im Moment. Nostalgie ist im Kontext dieses historischen Vergleichs unangebracht. Denn bei aller Liebe zur Rarität, bewunderte man mindestens so sehr den Status des Sammelnden wie die Sammlung selbst: im 17. Jahrhundert war nicht die Welt staunenswerter, sondern lediglich das Staunen eine angemessene Reaktion auf das Zelebrieren männlich privilegierter Machtdemonstration. Es drängt sich der Versuch einer Rehabilitierung der Wunderkammer also nicht gerade auf. Was, das muss gefragt werden, könnte daran interessant sein, sich mit dieser Frühphase der Museumsgeschichte künstlerisch auseinanderzusetzen? Warum die Idee aufgreifen, unterschiedliche Positionen, Objekte, Kunst und Nicht-Kunst in vier Schaufenstern unkategorisiert nebeneinander zu zeigen? Lässt sich dieses Setting einer angestaubten Sammlerleidenschaft europäischer Oberschicht heute künstlerisch und kritisch produktiv machen?
Es ist vielleicht gerade die Problematik des Konzepts Wunderkammer, die sich für ein zeitgenössisches Nachdenken über Repräsentation von Welt fruchtbar machen lässt, wenn man eine Art Reenactment wagt, das gleichermaßen Begräbnis wie Versuchsanordnung ist. Begräbnis deshalb, weil sich im 17. Jahrhundert einerseits schon ein Selbstbewusstsein männlich-westlicher Überlegenheitsgewalt abzuzeichnen beginnt, auch wenn der Höhepunkt kolonialer Ausbeutung erst zweihundert Jahre später erreicht ist. Das zeigt sich schon am Selbstverständnis, dass die Welt ein Ort sei, an dessen Reichtum man sich nur bedienen müsse. Dass diese Selbstbedienung am Buffett der Wunder nur einigen wenigen vermögenden weißen Fürstensöhnen vorbehalten war, darüber dachte man wenig nach und wenn, dann ohne schlechtes Gewissen. Andererseits, und das ist ein vorsichtig formuliertes andererseits, war diese keimende Hybris westlicher Überlegenheitsphantasien in den Wunderkammern noch irgendwo zwischen Kometensplittern, mechanischen Uhren und seltenen Federn verstreut. Unter dem Vorwand des Staunenswerten fand sich hier fast unhierarchisch Wertvolles neben Wertlosem, Naturgegenstände neben Kunsthandwerk, Alltagsgegenstände neben Kuriositäten. Das Nebeneinander von Objekten, deren Eigentümlichkeit eine klare Zuordnung verunmöglichte, ist eine Art auf die Welt zu schauen, die sich mit der Moderne und dem Aufschwung der Naturwissenschaften sowie der resultierenden Trennung in Natur und Kultur radikal veränderte. War Staunen vor 300 Jahren die gesellschaftsfähige Antwort auf die kostspielige Messi-Leistung Wohlhabender und Wohlgeborener, setzt die Moderne Wissen und Erkennen an die Stelle dieser naiven, von Privilegien getragenen Faszination. Man sammelt nicht mehr wahllos, sondern sortiert die Welt mit System in Völkerkundemuseen, Naturkundemuseen, zoologischen Gärten und Weltausstellungen. Man ist nicht mehr verzaubert, sondern will den Kosmos, seine evolutionäre und ideologische Ordnung rational durchblicken und sich nebenbei selbst als Westeuropäer „wissenschaftlich fundiert“ an deren Spitze platzieren.
Dagegen mutet das ungetrennte Nebeneinander von Kunst, Nicht-Kunst, Gebrauchsgegenstand und Naturobjekt wirklich wie ein zeitgenössisches Ausstellungskonzept an, das diese Ordnungs-Strukturen hinterfragt: Ein Ort, wo zwar gesammelt wird, aber eine Topfpflanze neben einem kunsthandwerklichen Objekt mit gleicher Berechtigung steht und nicht auf Wertigkeit hin kategorisiert wird. Tatsächlich bezweckten die damaligen Sammlungen, den universalen Zusammenhang aller Dinge darzustellen, mit dem Ziel, eine Weltanschauung zu vermitteln, in der Geschichte, Kunst, Natur und Wissenschaft zu einer Einheit verschmolzen. Dass sich aber der Einheitsgedanke nie ohne die Ausgeschlossenen denken lässt, über die sich diese Einheit erst manifestiert, haben die letzten 300 Jahre wiederholt gezeigt. Die Wunderkammer, das darf trotz des demokratischen Nebeneinanders der Objekte nicht vergessen werden, suchte die Kuriosität in der Welt, so wie sie war. Es ging nicht darum, etwas zu verändern. Es ging um das Staunen über die Welt und über den Status des Sammlers, der diese Welt zusammengetragen hatte. Dieses unreflektierte Staunen und die Sammlung als Statussymbol, das muss man begraben.
Es kann sich trotzdem lohnen, zurückzugehen an diesen problematischen Ort. Ein gleichwertiges Nebeneinander von menschengemachten und naturgemachten Materialitäten erst mal zu behaupten, das kann als künstlerisch-politische Haltung und nicht als Statusdemonstration eine wagenswerte Versuchsanordnung sein.
Zu diesem Experiment gehört auch die Entscheidung des Ortes. In den Schaufenstern einer Fußgängerzone wird die Wunderkammer zum öffentlichen Ereignis und glänzt nicht länger durch Exklusivität. Hier blicken alle Vorbeigehenden beiläufig auf das Ausgebreitete, das weder als Einzelstück einer Sammlung noch als Ware erworben und besessen werden kann. Das verändert auch die Blicksituation. Es schaut im besten Fall nicht länger ein Subjekt auf eine Sammlung von Objekten, die eine einheitliche Welt repräsentieren. Vielmehr kann es darum gehen, eine Wunderkammer zu versuchen, in der die Dinge selbst Blicke zurückwerfen: entweder die Blicke derer, die sie geschaffen haben oder des Kontextes aus dem sie stammen. Nicht, um Einheit zu schaffen, sondern, um bei aller Aufhebung von disziplinären Grenzen und Trennungen von Künstlichem und Natürlichem, darauf zu beharren, dass ein Zurückblicken und ein Blickwechsel möglich sind. Ein Zurückblicken der Dinge, die nicht bereit sind, sich der Phantasie eines Sammlers zu fügen. Ein Blickwechsel zwischen Dingen und denen, die zwischen den Dingen sind. Ein Angeschaut-Werden von Dingen, die nicht bereit sind, Einzelne zu verzaubern, sondern die einen eigenen Blick einfordern, der umgekehrt die Wunderkammer und ihre Geschichte zum Ausstellungsobjekt macht.
Autorin: Judith Engel
Kuration: Jan Nicola Angermann
Mit freundlicher Unterstützung durch das Kulturamt Stuttgart