Andreas Diefenbach
bis 30.4.2023
Galerie Gemüse
Lange Straße 3
20359 Hamburg
(Nachbild)
Phantombilder sind Bilder, die die Augen produzieren, obwohl der ursprüngliche Lichtreiz bereits Geschichte ist. Diese visuellen Echos sind besonders deutlich zu sehen, nachdem man in die Sonne oder eine Glühlampe geschaut hat. Die Wahrnehmungsphysiologie bezeichnet das Phänomen als entoptischen Eindruck.
(Damals)
Vor fast genau 4 Jahren hat der Künstler Andreas Diefenbach in der Frankfurter Galerie Feld + Haus seine Ausstellung More Than A Feeling eröffnet. Zu sehen waren 10 gross- und fast gleichformatige Bilder, die alle in derselben analog-digitalen Mischtechnik hergestellt waren. Ich war damals nicht dabei und diese Arbeiten kenne ich nur als Reproduktionen in einem die Ausstellung begleitenden Heft.
(Assoziation 1)
Weil es mir irgendwie gelang, die einzelnen Titel zu überlesen und dazu auch noch beim Betrachten das schrille Song-Zitat zu vergessen, gefiel es mir, sie als Fenster zu William S. Burroughs Interzone zu sehen. Für Burroughs war dieser imaginierte Ort ein Nachbild des marokkanischen Tangiers der Mitte des letzten Jahrhunderts. Bevölkert von luziden Charakteren, die obskure kommerzielle Interessen mit dunklen Utopien koppelten, um eine Macht zu erkämpfen, die sich selbst zum Ziel hatte – „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“.
(Geteilt)
Für die jetzige Hamburger Ausstellung hat Diefenbach im Maßstab 1:2 verkleinerte Siebdruckfilme der für die originalen UV-Drucke benutzten CMYK-Vorlagen anfertigen lassen. Ich war froh, als er mir eine weitere Überdruckungsstufe zeigte, bei der einzelne Farben mit kaltem Weiss ausgetauscht waren, denn plötzlich zog zeitgenössischer Nebel auf und die Reproduktionen entwickelten sich in Richtung einer wahrnehmungsphysiologischen Versuchsanordnung: Das Extra-Layer wurde Äquivalent der Erscheinung, die eigentlich hinter unseren Lider passiert, wenn wir geblendet die Augen schliessen.
(Assoziation 2)
In meinem Kopf betrat noch ein Schriftsteller die Bühne. Ich träumte, wie J.G.Ballard William S. Burroughs die Hand reichte und ihn durch die kalifornische Wüste in einen weiteren fiktiven Ort führte. Das Luxus-Resort Vermillion Sands. Ballards so betitelte Kurzgeschichten-Sammlung enthält das 1967 geschriebene The Cloud-Sculptors of Coral D. An einer Stelle dieses kurzen Prosa-Stücks beobachtet, die von Selbstporträts besessenen Leonora, in futuristischen Gleitern Wolken-Bilder anfertigende Künstler, während „Erinnerungen, Karavellen ohne Segel, die schattenhaften Wüsten ihrer ausgebrannten Augen durchqueren“.
(Ramalama)
Denise Johnson, die Sängerin des den Song Don‘t Fight It, Feel It bestimmenden Mantras „Ramalama lama fa fa fa – Gonna get high until the day I die“, ist 2020 gestorben. Ein paar Monate nach Andrew Weatherall, dem Produzenten des Primal Scream Albums Screamadelica, auf dem dieses Lied 1991 zuerst erschien. Beide halfen dem Bandleader Bobby Gillespie, seine geschichtsvergessene Psychedelik in Richtung Acid House zu aktualisieren. Was Weatherall über das modifizierte MC5-Zitat dachte, können wir ihn nicht mehr fragen. Auch ob sich Johnson komisch fühlte als sie diesen wahrscheinlich aus dem Fundus des britischen Pop-Stotterns (wie „My Generation“ und „La-La-Lies“ von The Who, „Sha-La-La-La-Lee“ und „I Feel Much Better“ von The Small Faces) entnommenen Refrain wiederholte, bleibt ein Geheimnis.
(Vernunft)
In Hans-Jürgen Hafners Text zur Frankfurter Original-Ausstellung ist eins der bestimmenden Wörter Paragone. Der Kunsthistoriker nutzt den dadurch bezeichneten Kampf der Künste (paragone delle arti) als Vergleichspunkt, um Diefenbachs Malerei konservativ in neuen digitalen Arbeitsfeldern zu reflektieren. Während ich seine Worte las, wurde ich von einem Ohrwurm gequält. Der niederländische Produzent FFF hat 2022 das Stück Paragon Of Reason veröffentlicht. Eine moderat-neuzeitliches Hardcore-Brett das zwischen gebrochenen und geradem Rhythmus mäandert und von zwei Sätzen bestimmt wird, die Tommy de Roos (so sein richtiger Name) aus dem 1970 veröffentlichten Supercomputer-Film Colossus abgesamplet hatte: „Eine unparteiische, emotionslose Maschine, ein Musterbeispiel an Vernunft. Das ist es, was ich will.“
(Vor & Nach)
In der aktuellen Kunstpädagogik versteht man unter der Bezeichnung Vorbild/Nachbild eine Vermittlungspraxis, bei der ein Kunstwerk von Schülern untersucht, besprochen und anschließend individuell verändert wird. Ziel ist nicht, das Bild nachzumalen, sondern es mit eigenen Mitteln zu interpretieren. Mit viel gutem Willen meint man dieses Vorgehen auch bei Diefenbach erkennen zu können. Als Erweiterung der Selbstporträt-Obsession von Ballards literarischer Figur Leonora. Doch seine kulturelle Sozialisation (als exzeptioneller Plattenhändler, Student beim Sehgewohnheiten-Verschieber Michael Krebber und Designer nachhaltiger DIY-Mode) bedingt eine vernünftige, maschinengleiche Arbeitsweise, der sich selbst modifizierenden historischen Ermächtigung (die nie und niemals pädagogische Appropriation sein kann und will).
(Jetzt)
Diefenbachs Zeitrechnung fängt gefühlt im Tangier der späten 1950er an und hört definitiv im London der frühen 1990er Jahre auf. Wie Paul Klees Angelus Novus fliegen wir rückwärts, diese sich verkleinernde kulturelle Insel stets im Blick behaltend, aber weit über das Ende der Geschichte hinaus. Anders als die großen, damals mondän präsentierten Originale, wirken seine hier gezeigten Miniaturen aus der Warenlogik herausgelöst. Und das macht wohl ihre erkenntnisreiche Schönheit aus: Die fiktionalen Flügel der Segelflugzeuge von Vermillion Sands schneiden wahre Wunder aus den Kumulus-Formationen und während der ausgedachte Pilot immer und immer wieder Gewebe von ihnen abtrennt, fällt uns in kühlem Regen der Dunst entgegen – Die Vergangenheit wird Zukunft, der Ort eine Marginalie.
Thomas Baldischwyler
Diese Veranstaltung wird gefördert durch die Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Kultur und Medien