In ihrem Vortrag geht Elisa R. Linn von ihrer Promotion zu künstlerischer und sozialer Selbstorganisation als „Biopolitik von unten” sowie Vorstellungen des Grenzdenkens (Gloria Anzaldúa/Walter Mignolo) als eine Denkweise und Praxis aus, die sich in der subalternen Erfahrung von Grenzgebieten begründet. Hier umreißt sie, wie die Berliner Mauer während der AIDS-Krise und inmitten der Konfrontation des Kalten Krieg als „Kondom” gegen die Anderen fungierte und die beiden deutschen Nationalstaaten Souveränität und Außengrenzen auf deren Kosten instrumentalisierten und festigten. Linn untersucht ermächtigende Selbstorganisationsprozesse, Ideen von Performativität, Minorität-Werden und Lebenspraktiken marginalisierter Gemeinschaften entgegen essentialistischer Vorstellungen von Repräsentation – wie der LGBTQI+-Community, der Punk-Bewegung und der Gast-/Vertragsarbeiter*innen. Wie schafften es diese Gemeinschaften nicht nur in hegemonialen Strukturen zu existieren, sondern das Denken von Grenzen in Grenzüberschreitungen zu überführen? Jenseits der kategorisierenden Logik von Identität zeichnet der Vortrag nach, wie Körper von einer Identität, von einem Geschlecht zum anderen, wandern, wobei die Grenze hier als Ort der Artikulation gilt. Im Gegensatz zu einem ethno-nationalistischen Verständnis von Migration versammelt Linn theoretisch-ästhetische Perspektiven, die mit dem hegemonialen Sprechen von Migration als Ausnahmezustand, Entfremdung oder Bedrohung brechen – was angesichts der gegenwärtigen transnationalen Migrations- und Asylpolitik relevanter denn je erscheint. Wie können die Grenze und ihre Liminalität re-kontextualisiert, demobilisiert und (wieder) angeeignet werden – jenseits des territorialen, kategorialen Denkens, um den Rahmen des Nationalstaates zu überschreiten?
In diesem Zusammenhang lädt Linn Sung Tieu ein, die Selbstorganisationsstrategien von Bürger*innenstiftungen im Wohnheimkomplex "Gehrenseestraße 1" in Berlin Alt-Hohenschönhausen zu diskutieren. In diesem Komplex waren vor allem vietnamesische Vertragsarbeiter vor, während und nach dem Fall der Berliner Mauer untergebracht.
Elisa R. Linn (Elisa Linn Roguszczak) ist Autorin, Ausstellungsmacherin und Pädagogin. In ihrer Praxis beschäftigt sie sich mit Politiken der Selbstorganisation, Repräsentation, Kollektivität, Migration, nicht-essentialistischen Vorstellungen von Identität und dem Minoritäten, wobei sie modernistische Vorstellungen vom Nationalstaat und dem "großen Mann" in Frage stellt. Sie ist Co-Leiterin der Halle für Kunst Lüneburg e.V. und lehrt an der Leuphana Universität und der ZHdK. Sie ist Absolventin des Whitney Independent Study Program und promoviert in Philosophie bei Marina Gržinić an der AdbK Wien. Im Sommersemester 2022 vertrat sie Prof. Dr. Kerstin Stakemeier am Lehrstuhl für Kunsttheorie und -vermittlung an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Linn veröffentlichte Beiträge für Publikationen und Zeitschriften wie Frieze, Starship, artforum, Texte zur Kunst, BOMB, ArtAsiaPacific, Jacobin und das Journal for the History of Knowledge. Seit 2012 leitet sie gemeinsam Lennart Wolff das Kurator*innen- und Künstler*innenprojekt km temporaer. Außerdem co-organisiert sie den Filmclub der polnischen Versager*innen in Berlin-Mitte.
Sung Tieu ist eine in Berlin lebende Künstlerin. Dieser Vortrag wird im Rahmen ihres vorherigen Engagements als Gastprofessorin vom Wintersemester 2021 bis zum Sommersemester 2022 präsentiert.
Der Vortrag findet auf Englisch statt.